Das weiße Album von den Beatles war eine der ersten Platten, die ich mir selber gekauft habe, ich werde das nie vergessen, die Fahrt nach München, Saturn Hansa an der Theresienwiese, diese Plattentempel waren ja damals für uns heilige Orte, man kann das heute gar keinem mehr verständlich machen. Auf der Rückfahrt im Zug merkte ich schon, ich werde krank, legte mich zuhause mit rasant ansteigendem Fieber ins Bett und dazu den Soundtrack des weißen Albums, erstes Hören, völlig unbekannte Musik. Bei Revolution 9 dachte ich, ok, das wars, das sind jetzt die letzten Fieberphantasien bevor es abgeht richtung Tod, vollkommen logisch folgte danach „Good Night / Sleep Tight“, ich schlief ein, die Platte drehte sich in der Endrille weiter bis zum nächsten Morgen, und ich verstehe im Grunde bis heute nicht, wie ich je wieder aufwachen konnte, wie es eigentlich sein kann, dass mein Leben danach doch noch weiterging. Ich kann kaum noch genau sagen, wann das war, vielleicht 1988 oder 89. Über die Beatles, die Stones, die Musik der Sechziger insgesamt, erschloss sich mir der ganze Kosmos der Musik nochmal neu, nachdem ich bis dahin nicht anderes gekannt hatte als Beethoven und Mozart einerseits, deutscher Schlager andererseits, und dann noch, fast das Schlimmste, die mir vollkommen steril und seelenlos erscheinende Popmusik der Achtziger, das Zeug, das damals so im Radio lief, das auch die Leute in der Schule gut fanden, kalte Plastikmusik, diese Synthesizersounds und künstlich klappernden Schlagzeuge, ich konnte dem einfach nichts abgewinnen. Die Beatles waren für mich damals eine Tür zu einer mir völlig neuen Welt des Pop, und lustigerweise das weiße Album stieß sie auf, Sergeant Pepper hörte ich erst viel später und fand es dann auch eine nicht so wahnsinnig bahnbrechend gute Platte, wie alle immer tun.
Gestern kam mit der Post [1] das weiße Album noch einmal zu mir, wegen einer Notiz des Klagefalls, wo ich sofort wusste: Ok, das brauche ich auch. Die neue Abmischung sehr gut, die neue Klarheit und Präsenz der Stimmen, überzeugt mich sofort, die Esher Demos auch sehr interessant, wie fertig diese Songs schon sind, auch in der Rohfassung. Man kriegt so eine kleine Ahnung, wie diese Lieder gewachsen sind. Gleichzeitig aber auch schon deutlich die Signale der Auflösung, der Entfremdung. Die Herausgeber haben bei ganz vielen Liedern die Stimme des Sängers einfach verdoppelt, so dass die Illusion von chorischem Zusammenklang entsteht, aber in Wahrheit singt immer nur John mit John, Paul mit Paul, und manchmal vernimmt man im Hintergrund ein Klatschen und hofft, es ist Ringo. Aber John und Paul singen hier im Jahr 1968 offenbar nicht mehr zusammen.
Der Zusammenklang dieser zwei Stimmen war aber mal die wahre Magie dieser Band, ich gäbe alles für eine Zeitmaschine in den Star-Club 1960. Das weiße Album ist im Grunde schon die gewaltsame Ineinanderschiebung von zwei Soloalben. Fast jeder Song ist der Hammer, wahnsinnig gut, aber im Gegensatz zu Revolver, meine geheime Lieblingsplatte der Beatles, sieht man die Band hier trotzdem schon am Ende. Die Esher-Demos bestätigen diese Vermutung.
[1] Ich lebe in einer Stadt voller Plattenläden und lasse mir trotzdem CDs von bösen Internetkonzernen per Post liefern, um sie dann zu digitalisieren und als mp3 vom Küchenradio abspielen zu lassen, während ich Zwiebeln schneide. Mit anderen Worten: Ich bin Voldemort.
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Ja, ich mag die erwachsene Phase der Beatles am meisten und die fing mit Revolver an. Wenn man sich vor Augen hält, wie kurz die Bandgeschichte eigentlich war und wieviel Musik in den wenigen Jahren entstanden ist: unfassbar.
Auf jeden Fall, die unglaubliche Produktivität und Innovationskraft der Beatles, das wird immer ein Mysterium bleiben. Danke nochmal für den Hinweis auf die neue Edition, habe den Kauf absolut nicht bereut, sehr interessante Einblicke…
Im Gegenzug habe ich mir Glenn Gould gekauft (den du neulich mal erwähnt hast). Gibt es insoweit Empfehlungen, vielleicht auch außerhalb von Bach? Mein Familie ist vorgeschädigt, was Bach angeht.
Hab schon wieder vergessen, wo ich Gould erwähnte. Die Kunst der Fuge als Streichquartett, gespielt vom Keller Quartett, ist eine Platte, die mir unentbehrlich ist. Außerhalb Bachs rate ich dringend zu Schubert. Die A-Dur und B-Dur-Sonate hat Krystian Zimerman kürzlich neu auf Platte rausgebracht: Wahnsinnig gut. Ich fand die A-Dur-Sonate immer unverständlich, durch Zimerman wurde sie mir sofort klar.
Gut geschrieben. Das White Album zwei ineinander geschobene Solo-Alben… Mein Beatles-Album war Abbey Road, das hab ich schon mit elf gehört, wir hatten die Platte zu Hause, sie gehörte meiner großen Schwester. Das prägt für die Ewigkeit. (Von Cliff Richard hatte sie auch eine Platte. Zum Glück nur eine Single: Ein Sonntag mit Marie. Hab ich auch noch im Ohr).
Danke! Ja, die Abbey Road ist dann ja auch wirklich nochmal ein Wunder für sich, da spielen sie nochmal komplett als Band zusammen, vollkommen organisch, eine Wahnsinnsplatte. Vielleicht haben sie sich deshalb danach aufgelöst, weil sie wussten: Das wars jetzt, das können wir nicht mehr toppen.
Ich höre in den letzten Wochen vor allem wieder Let It Be, die ja allgemein als schwächer angesehen wird. In allen drei Versionen (das Bootleg Kum Back, die offizielle Mischung von Phil Spector und die abgespeckte Naked-Version). Alle haben was, ich muss darüber mal etwas schreiben.
Bin in dem Fall ganz klar für die Naked-Version, aber irgendwie ist schon wirklich die ganze Platte irgendwie vermurkst, paar Lieder sind schon genial natürlich, aber als Ganzes funktionierte die Platte für mich nie. Aber schreib auf jeden Fall mal darüber, würde mich schon interessieren…
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