Haydn, Bartók, Beethoven

Neulich im Gespräch mit D. über Tagebücher geredet. Ich erzählte ihr von meinem Konzerttagebuch, das ich vor ein paar Monaten begonnen hatte, und in welches ich möglichst schnell nach jedem Konzert, das ich besuche, meine Eindrücke hineinschreibe, wenn es irgendwie geht am selben Abend noch, solange alles noch frisch und roh im Kopf herum schwirrt. D. meinte dann, das sei doch perfekter Blogcontent, daran hatte ich noch überhaupt nicht gedacht, so weit habe ich mich vom Bloggen schon entfremdet. Aber sie hat ja nicht unrecht, also probiere ich es doch einmal, hier, leicht gekürzt, mein Text von gestern Nacht:

17.03.2023

Bibliothekssaal Polling

Barbican Quartet

Joseph Haydn: Streichquartett Nr. 2 C-Dur op. 20 Hob. III/32
Béla Bartók: Streichquartett Nr. 4
Ludwig van Beethoven: Streichquartett Nr. 8 e-moll op. 59/2

Nachdem ich jetzt ziemlich oft in der Isarphilharmonie in großen Sinfoniekonzerten gewesen war, heute endlich mal eine Kammermusik auf höchstem Niveau, Streichquartette, es gibt ja nichts schöneres eigentlich, meine Vorfreude war die allergrößte. Zum ersten Mal im Bibliothekssaal in Polling, ich fuhr frühzeitig los, über Böbing und Peißenberg, wie Google Maps es mir empfohlen hatte, ungewohnte Strecke, ich fand aber alles sofort ohne Probleme. Als ich in Polling aus dem Auto stieg, zur blauen Stunde, war ich augenblicklich wie verzaubert, so ein ländlicher Friede, ein wundervoll nach Kuhmist duftendes Idyll rund um die alte Klosteranlage, „Liberalitas Bavarica“ steht über dem Eingang zur Kirche in goldenen Lettern, ich fühlte mich sofort wie daheim.

Ich betrat nun das dem Kloster vorgelagerte Bibliotheksgebäude, zum ersten Mal hatte ich keine Eintrittskarte aus Papier, das machte mich ganz nervös, ich kann mich nicht mehr erinnern, warum, aber ich hatte beim Erwerb des Tickets die Option eines digitalen Handytickets gewählt, jetzt war ich aber der einzige, der beim Einlass sein Handy zückte, alle anderen hatten, soviel ich sehen konnte, normale Papiertickets in der Hand. Man ließ mich trotzdem hinein. Beim Eintritt in den wunderschön barocken Saal stand ich unversehens direkt vor einem Gemälde, welches einen gewissen „Erhardus Eyrl Amergaviensis“ zeigte, offenbar war ich nicht der erste Ammergauer, der diese ehrwürdige Halle betrat, das erfreute mich irgendwie.

Mit Haydn habe ich teilweise so meine Probleme, das plätschert manchmal so harmlos und gefällig vor sich hin, so ging es mir ja kürzlich beim großen John Eliot Gardiner, der in der Isarphilharmonie sein Konzert mit einer Haydnsymphonie eröffnet hatte, die mir letztendlich irgendwie fad und nichtssagend geblieben war. Nicht so heute, das Barbican Quartet war von der ersten Sekunde an voll da, auch der Haydn machte den vier Musikern sichtlich Spaß, das spritzte und funkelte, nichts war hier beliebig oder routiniert heruntermusiziert, ich war sofort begeistert.

Vom Bartók hatte ich mir nun am wenigsten erwartet, eigentlich gar nichts, um genau zu sein, das Wenige, das ich von Bartók bisher gehört habe in meinem Leben, hat mir überhaupt nicht gefallen, so ein schräges, dissonantes Gekreisch irgendwie, eine Musik, mit der ich einfach nichts anfangen kann. Dieses Urteil muss seit heute dringend einer Revision unterzogen werden, das Streichquartett hatte mich nach wenigen Takten völlig in seinem Bann, das war teilweise richtig jazzig, wie das so rhythmisch und hochenergetisch nach vorne raste, im zweiten Satz dann ganz geisterhaft flirrend leise und halb irr schwirrte, der dritte Satz wie ein ganz ernstes Selbstgespräch, ein instrumentales Rezitativ, dachte ich, wie es sich auch bei Beethoven manchmal findet, im langsamen Satz des vierten Klavierkonzerts zum Beispiel. Alles an diesem Streichquartett schien mir beim ersten Hören sofort stimmig, durchdacht, einer zutiefst musikalischen Logik folgend, als es zum Schluss wieder so synkopisch rasant zum Ende hin stampfte, war ich Bartók-Fan.

Beethovens op. 59/2 war das einzige Werk des heutigen Abends, das ich vorher schon kannte, hier hatte ich also einen Vergleich zu meinen zwei Lieblingsstreichquartetten, von denen ich jeweils die kompletten Beethoven-Quartette auf CD besitze: das Emerson String Quartet und das Quatuor Ébène. Das Barbican Quartet muss diese Vergleiche keinesfalls scheuen. Manchmal, wenn so eine gewisse Phrase von oben nach unten durch die vier Stimmen hinuntergereicht wird, das war ganz übergangslos, wie aus einem Guss, von unsichtbarer Hand verschmolzen. Das wehmütig singende Adagio ganz zart, mir war, als hätte ich das so schön noch nie vorher gehört. Ich hatte während des Konzerts plötzlich den seltsamen Gedanken, hier kündige sich bereits das mysteriöse Spätwerk Beethovens an, dabei ist das ja, wie ich mich jetzt nochmal vergewissere, ein absolutes Produkt der mittleren Periode, steht opusmäßig zwischen dritter und vierter Symphonie, und doch schien mir vieles an dem Quartett heute so fragmentiert, vergrübelt und zerbrechlich, wie sonst nur die ganz späten, rätselhaften Werke Beethovens.

Das Publikum erschreckend alt, nur ein paar ganz vereinzelte junge Menschen, welche durchweg englisch sprachen, also womöglich mitreisende Groupies des ebenfalls sehr jugendlichen Quartetts, der Rest mehrheitlich weißhaarige Ehepaare mit Lodenjoppe und Hörgerät. Trotz des hohen Durchschnittsalters aber lautstarker Jubel am Schluss, begeisterte Bravo-Rufe, überhaupt eine angenehm unsteife Atmosphäre.

Abschließend gebe ich noch zu Protokoll, dass ich heute nicht nur zum ersten Mal selbst mit digitaler Eintrittskarte unterwegs war, sondern auch zum ersten Mal Zeuge davon wurde, dass die Musiker nicht aus papiernen Noten, sondern von iPads spielten. Vor jedem der vier lag eine kleine Apparatur auf dem Boden, die aussah wie ein kleines Wahwah-Pedal, womit sie offensichtlich umblätterten. Leuchtet unmittelbar ein, eine ganz klare Verbesserung, ich erinnere mich noch sehr lebhaft an den enervierenden Kampf mit störrischen Papierseiten. Eigentlich interessant, dass diese Technologie sich bei den großen Symphonieorchestern offenbar noch nicht durchgesetzt hat, die müssen noch immer per Hand blättern, soviel ich zuletzt sehen konnte.

Durch die finstere Nacht den teils ziemlich kurvigen Weg von Polling heimzufahren, ist etwas anstrengender, als von München einfach nur die schnurgerade Autobahn runterzubrettern, dafür ist der Weg kürzer, 22:30 Uhr war ich daheim.

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Wiederholungen

Neulich passierte etwas Seltsames, nämlich als ich nach sechsstündiger Zugfahrt am Südkreuz ankam und in die Ringbahn stieg, da betrat in Schöneberg oder Innsbrucker Platz eine Frau den Waggon und sang ein Lied, ganz alleine, unbegleitet, in einer mir fremden Sprache. Das einzige Wort, das ich verstehen konnte, war „Familia“. Dieses aber schien immerhin das zentrale Wort zu sein, um das sich das ganze Lied drehte, die Frau sang das mit herzzerreißender Inbrunst und auch guter Gesangstechnik, wie sie mit ornamentalen Verzierungen dieses Wort noch weiter dehnte und bei jeder Wiederholung immer noch ein wenig mehr in die Länge zog: „Fami-i-i-lia! Fa-mi-i-i-i-i-l-i-i-a-a-a!“ Das Verrückte geschah dann eine Woche später, als ich an der Jungfernheide in die Ringbahn wieder einstieg und mich anschickte, den ganzen Weg nach Ogau wieder zurück zu fahren, da war dieselbe Frau wieder mit mir in der Bahn und sang wieder ihr Lied von der Familie, mir lief es kalt den Buckel runter, plötzlich schien es, als richte sich ihre Botschaft direkt an mich persönlich, natürlich verstand ich auch diesmal nur genau ein einziges Wort von ihrem Lied, dennoch Gänsehaut, diesmal gab ich ihr ein Geld in ihren Pappbecher hinein.

Die letzten Tage Kerouac angefangen und gleich wieder weggelegt, desgleichen mit Kaiser-Mühlecker. Draußen wieder das schönste Wetter und ich keinerlei Lust zum Rausgehen. Ich brauche jetzt einfach mal eine wirkliche Weltliteratur, dachte ich dann, und griff wieder zum Proust, an dem ich schon so oft gescheitert bin, dass es auf ein weiteres Mal auch nicht mehr ankommt.

Eine Kerze im Schnee

08.02.2022
Todestag meiner Mutter. Ich fuhr zum Rewe nach Oberau, um Bier, Coronatests und Lebensmittel zu kaufen, und eigentlich auch eine Blume, um sie aufs Grab zu legen, aber genau die vergaß ich. Eine Kerze ist auch gut, vielleicht sogar noch besser, dachte ich dann, als ich wieder zuhause war, und fuhr nochmal los zum Müllermarkt: ein Viererpack Friedhofskerzen und zwei Feuerzeuge, ich fühlte mich fast schon wie in einem meiner wiederkehrenden Alpträume, wo ich wieder mit dem Rauchen anfange. Das Feuerzeug in meiner linken Hosentasche fühlte sich gleich wieder vertraut an, ganz wie früher, das stimmte mich unbehaglich. Vom Müller Drogeriemarkt, wo ich damals, fast auf die Minute genau vor fünf Jahren, die Nachricht vom Tod meiner Mutter erhalten hatte, ich war mit einer Packung Waschpulver gerade auf dem Weg zur Kasse gewesen, als das Telefon bimmelte, und dann die Ärztin vom Garmischer Krankenhaus dran war, mit den Worten: „Ihre Mutter hat es jetzt hinter sich“ – vom Müller aus also direkt zum Friedhof, wo alles tief verschneit. Ich stand dann lange vor dem Grab, es war sehr still, ich war der einzige Mensch am ganzen Friedhof, und die Kerze leuchtete rot im tiefen Schnee. Zuhause nahm ich als erstes das Feuerzeug wieder aus der Hosentasche heraus und legte es in den Schrank.

09.02.2022
Nachmittags fuhr ich zum Edeka raus, kaufte Weißwürste, und bog auf dem Rückweg nochmal rüber zum Friedhof, um die abgebrannte Kerzenhülse vom Grab zu entfernen. Auf dem Weg wunderte ich mich schon, wieviele Fußgänger da unterwegs waren richtung Friedhof, auch der ganze Parkplatz war zugestellt mit Autos und die Glocke der Aussegnungshalle bimmelte. Eine riesen Beerdigung fand da statt, ich kannte verrückterweise niemanden, nicht einmal vom Sehen, konnte nicht im Mindesten erraten, welch wichtige Persönlichkeit da wohl gestorben war. Während immer noch mehr Menschen zur Aussegnungshalle strömten, hatte der Pfarrer mittlerweile schon mit den letzten Segnungsworten begonnen, ich wollte auch die Beerdigung nicht weiter stören, huschte nur schnell zum Grab, holte die leere rote Plastikhülle, die durch die Wärme der Kerze ganz tief in den Schnee hinabgesunken war, und ging schnell zurück zum Auto.

Über das Fliegen mit Flügeln

Lustig war gestern die Verkäuferin im Europa-Center, der ich einen Koffer abkaufen wollte. Worauf es mir dabei ankäme, wollte sie wissen, und ich erwiderte: Stabilität! Der alte Koffer sei nämlich viel zu schnell schon wieder kaputt gegangen. Wo genau er kaputt gegangen sei, fragte sie mich nun, und ich antwortete ihr wahrheitsgemäß: An den Rädern. Und spätestens ab jetzt hatte sie mich in einer völlig klaren Schublade eingekastelt: Vielflieger. Sie dozierte mir, wie die Koffer am Flughafen herumgeschmissen würden, wie dabei logisch die Räder als erstes zu Schaden kämen, wie genau man die Fluggesellschaften für die Kofferbeschädigungen zur Rechenschaft und auch zum Schadensersatz heranziehen müsse. Wir besichtigten mehrere Koffermodelle, sie empfahl mir eines, das auch für USA-Flüge tauglich sei. Dafür hätten die am amerikanischen Flughafen nämlich einen Generalschlüssel. Andere Koffer, die nicht mit einem solchen Schloss ausgestattet seien, brechen die dann einfach auf, dann ist der Koffer direkt im Arsch.

Als sie dies sagte, musste ich an die Geschichte vom Pianisten Krystian Zimerman denken, die ich neulich las. Zimerman geht nämlich immer mit seinem eigenen Flügel auf Tournee, er ist ein Klangfetischist, bastelt selber an seinem Klavier herum bis alles seinen höchsten Ansprüchen genügt, und will nicht auf ihm fremden Instrumenten Konzerte geben. Und kurz nach 9/11 soll er mit seinem perfekt präparierten Steinway nach New York geflogen sein, die Security-Leute am Flughafen dachten, da könnte vielleicht eine Bombe drin versteckt sein, und zerstörten bei ihrer Sprengstoffsuche den für Zimerman einzig spielbaren Flügel auf irreversible Weise.

Wahnsinn irgendwie, was bin ich froh, dass ich nicht mit einem Flügel verreisen will, sondern bloß mit einem Koffer. Und noch nichtmal mit dem Flugzeug, sondern nur mit der Eisenbahn. Ich verlasse noch nicht einmal das Land, aber das verheimlichte ich meiner Kofferverkäuferin, die mich schon so in die Flughafenprofi-Ecke gestellt hatte, dass ich mich da unmöglich wieder rausmanövrieren konnte. Als ich mich schließlich für den grünen, nicht den dunkelblauen Koffer entschied, beglückwünschte sie mich für meine Weisheit, da man den grünen natürlich am Gepäckband viel leichter wiedererkennen könne als die ganzen dunklen. Ich bezahlte, sie wünschte mir frohe Weihnachten und einen guten Flug. „Das wünsche ich Ihnen auch“, erwiderte ich, und rollte meinen neuen Koffer zur U-Bahn.

Die Plattensammlung meines Vaters

Nachdem meine Eltern sich final getrennt hatten, meine Mutter mit mir und meiner Schwester in eine andere, ganz neue Wohnung gezogen war, etablierte sich das Ritual, dass mein Vater uns jeden Sonntag dort besuchen kam. Diese Besuche dauerten ungefähr eine Stunde. Meine Eltern tranken dann einen Kaffee, aßen Kuchen, redeten ein für mich als Kind unsinniges, unerträglich langweiliges Zeug, wir Kinder mussten dabeisitzen, wurden kaum mal einbezogen ins Gespräch. Trotzdem war es für mich andererseits schon wieder aufregend, meinen Vater überhaupt mal zu sehen: Dass es den überhaupt wirklich gibt! Erstaunlich! Ihm mag es mit mir ähnlich gegangen sein.

Eines Tages jedenfalls, als das sonntägliche Besuchsritual schon lange etabliert war, brachte mein Vater zum ersten Mal einen Stapel Schallplatten mit, ausschließlich aus klassischer Musik bestehend, und niemanden interessierte das, meine Schwester nicht, meine Mutter nicht, also wanderten die Platten zu mir. So lernte ich Beethoven kennen, die großen Symphonien zuerst, die Klavierkonzerte, Mozart, ein bisschen Schubert, später Wagner, das waren Entdeckungsreisen. Der ganze Hintergrund war, dass mein Vater alles auf die damals neuen CDs umstellte. Hatte er Beethovens Neunte auf CD, dann wanderte umgehend am nächsten Sonntag die entsprechende Schallplatte zu mir. So wuchs mir seine ganze Plattensammlung langsam immer mehr zu, und ich hörte mich Stück für Stück da durch. Manches ging gar nicht (Rosenkavalier), bei anderem blieb ich hängen. So wuchs ich hinein in die Welt der klassischen Musik, ein Autodidakt im Grunde, aber ausgestattet mit einer wirklich umfangreichen und sorgfältig zusammengestellten Plattensammlung.

Als mein Vater starb, kamen noch einmal geschätzte hundert Platten auf mich, die ich vor der Vernichtung retten musste, da seine Lebensgefährtin die sonst sicher zum Müll getan hätte: Das waren seine Lieblingsplatten, auf die er trotz CD-Ersatz nicht hatte verzichten wollen.

Als das Nachbarskind uns fragte, ob sie ihre Kaninchen mal für zwei Wochen bei uns einquartieren könne, ahnte ich auch nicht, dass das das Ende meines Plattenspielers bedeuten würde. Aus den zwei Wochen wurde ein halbes Jahr, mein geliebter Thorens war danach kaputtgebissen, ich musste ihn zum Müll schmeißen.

Jahre lebte ich ohne Plattenspieler, jetzt habe ich mir wieder einen gekauft, wieder einen Thorens, besser fast als der alte, scheint mir, und da ich sie jetzt endlich wieder hören kann, ordnete ich die Platten meines Vaters erneut, und stellte fest: Sein Lieblingskomponist war eindeutig Mozart. Er hatte, was mir selber nicht mehr so ganz klar gewesen war, ungefähr dreimal soviele Mozart- wie Beethovenplatten.

Obwohl von meines Vaters Plattensammlung musikalisch geprägt, hatte doch diese Mozartliebe nie so recht auf mich abgefärbt. Ich hatte als Kind eine Cassette mit einem Hörspiel über das Wunderkind Mozart, der mit seiner Schwester Nannerl einmal ganz Europa auf Konzerttournee durchquert und dabei jede Menge Spaß hat. Wenig später steckte man mich in einen Anzug und schleppte mich in die Zauberflöte im Münchner Gärtnerplatztheater – mein erster Opernbesuch. Hiervon geprägt, blieb Mozart für mich ein irgendwie banaler Komponist für Kinder, dessen Musik es an wirklicher Tiefe fehlte.

Erst jetzt entdecke ich eigentlich diesen Mozart, eine ganze Welt tut sich plötzlich auf, ich hörte neulich im Zug mehrere Klavierkonzerte, die waren wie gemacht für das Fahren durch neblige Landschaften. Das c-Moll-Konzert KV 491 mit Clara Haskils unvergleichlich samtig perlendem Ton. Unvergleichlich, wie der erste Satz in reinster Düsternis geheimnisvoll verklingt. Oder das Streichquartett d-Moll, KV 421, das ich heute hörte während ich den Pizzateig knetete: das klingt teilweise schon an Schubert an. Andererseits aber auch so reinste C-Dur-Welten voll ungetrübter Positivität wie die Linzer Symphonie, wo ich die Freude hatte, einmal selber mitspielen zu dürfen am Cello: Was für wundervolle Musik einfach!

Mein Vater ist jetzt schon elf Jahre tot. Wie gerne ich mit ihm bei einem Bier über Mozart reden würde. Ihm für die Platten danken. Mit ihm streiten, warum er nicht mehr Zeit für mich gehabt. Den einst verhassten Rosenkavalier liebe ich schon längst genau wie er, jetzt entdecke ich auch noch Mozart. Im Grunde, und das ist gruselig, verwandle ich mich immer mehr in meinen Vater.

Trauriges Grau

Wie verloren und falsch ich mir vorkam, an der Haltestelle Reinickendorferstraße auf den M27 wartend. Der nasse Schnee tropfte, lärmende Feuerwehrautos quälten sich langsam durch die stehenden Autos, das ganze Gehupe und überhaupt der ewige Lärm, die vollkommene Trostlosigkeit eines BASF-Gebäudes im Schneetreiben, alles baut sich nur auf in Grau und Grau und Grau. Dazu noch die traurigen Gestalten in natürlich grauen Jogginghosen, die jeden Moment runterzurutschen drohen. Dass ganz Berlin an schlechter Laune zugrunde geht, wundert mich kein bisschen. Heute Morgen, nachdem ich J. zur Schule gebracht, ging ich direkt zum Metzger, um die Schnitzel für den Abend zu kaufen, dann wäre das schon mal erledigt. Punkt acht stehe ich vor der Tür, die Metzgereifachverkäuferin stellt gerade das Schild mit den Sonderangeboten des Tages heraus, ich ziehe mir meine FFP2-Maske auf und frage bloß freundlich: „Darf man schon rein?“ Und sie stänkert zurück, ohne mich überhaupt eines Blickes zu würdigen: „Tür is ja offen!“ Ich wende dann in solchen Fällen immer meine besonders fiese Superkraft an, ich bin extrafreundlich, auf eine schon fast österreichische Art künstlich übertrieben mega zuvorkommend, kaufe meine Schnitzel, und lasse die Dame auf diese Weise wissen, dass sie mir ebenfalls den Buckel runter rutschen kann.

La Comédie humaine

Gestern warf ich, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben, Bücher einfach zum Altpapier, um hier mal einen Anfang zu machen. Die doppelreihig bestückten Regale, gefüllt mit teilweise obskurstem Zeug, ich muss hier einfach mal Platz schaffen. Es gibt da ja ein seltsames Tabu in unserer Gesellschaft, dass man Bücher nicht zum Müll entsorgen dürfe. Auch jemand wie Herr K., der kaum übertriebenen Intellektuellentums verdächtig sein dürfte, äußerte sich mir gegenüber mal so, und in Berlin trage ich die Bücher ja auch immer brav zur Büchertelefonzelle am Mierendorffplatz, aber so etwas gibt es hier in Oberammergau leider nicht. Ich warf nur Bücher zum Altpapier, von deren literarischer Wertlosigkeit ich vollkommen überzeugt war: Zweifelhafte Gesundheitsratgeber, Weihnachtsanthologien, Martin Walser, Houellebecq, Gedichtsammlungen mit Sonnenuntergängen oder vierblättrigen Kleeblättern auf dem Cover. So Zeug. Erst nach Einbruch der Dunkelheit huschte ich schnell mit diesen Werken zu den Mülltonnen, schmiss sie zum Altpapier, und deckte dann sorgfältig alles mit unauffälligem, normalem Papiermüll ab, damit die Nachbarn nichts von meinem Kapitalverbrechen erfahren. Nicht auszudenken, was hier los wäre, wenn das Gerücht die Runde machte: Herr Wolf schmeißt Bücher in den Müll!

Im Zivildienst in München, bald dreißig Jahre her jetzt, da gab es einen Rollstuhlfahrer, der hörte auf den Spitznamen „Professor“. Ich sehe ihn heute noch vor mir, klein, agil, mit schwarzhaariger Meckifrisur, gar nicht alt, vielleicht Ende dreißig, Anfang vierzig. Ich kannte ihn kaum, er gehörte einer anderen Gruppe an, wie er zu dem Namen Professor gekommen war, entzog sich völlig meiner Kenntnis. Und eines Morgens kam ich zum Dienst, und vor dem Eingang stand ein riesiger Müllcontainer, voll mit allem möglichen, doch die oberste Deckschicht bestand aus Büchern. Davon wie magisch angezogen näherte ich mich dem Container und musste feststellen, dass es sich ausschließlich um absolute Weltliteratur handelte: Shakespeare, Laurence Sterne, Dante, Tolstoi, Thomas Mann, Dostojewski, und so weiter. Wer schmeißt denn sowas weg, fragte ich mich. Drinnen erfuhr ich, was es mit dem ominösen Container auf sich hatte: Der Professor war gestorben, und all seine Habseligkeiten wanderten jetzt ohne Umschweife in den Müll. Nach Dienstende passierte ich wieder den Container, nahm mir Dantes Göttliche Komödie heraus, und fuhr mit der U-Bahn nachhause. Gelesen habe ich sie nie, ließ sie aber auch gestern, als ich bei meiner Ausmistaktion wieder auf sie stieß, und mir die ganze Geschichte dadurch wieder einfiel, im Regal stehen.

Hälfte des Berges

Wunderschönes Herbstwetter noch einmal. Ich erwachte mit höllischen Kopfschmerzen, das gestrige Durcheinandertrinken von Wein, Bier und Whisky bei den Glaserschen war natürlich fatal. Pfiff mir Ibuprofen rein und schlief noch einmal ein. Gegen elf hinaus zur Tanke, Süßigkeiten für die Halloweenkinder kaufen, das hatte ich gestern beim Rewe vergessen, danach sofort raus, langer Gang in fast völliger Einsamkeit den Lainengraben rauf und dann linksrum auf der Forststraße richtung Aufacker. Die Stille, der Sonnenschein, Schatten der Erde, die goldenen Bäume, der Wald – ich war ganz eins mit allem. Fast ärgerte ich mich, als ich die übliche Route zum Aufacker kreuzte, dass ich nur Turnschuhe anhatte. Wäre mit Bergschuhen vermutlich noch schnell ganz raufgegangen auf meinen Lieblingsberg. So stieg ich vorsichtig wieder ab, fast verwundert, wie hoch ich schon gekommen war. Meine Gedanken und Gefühle waren von völliger Klarheit. Morgen Allerheiligen, es soll regnen den ganzen Tag. Die Halloweenkinder kamen natürlich nicht.

Posttraumatisches Theater

…aber was weiß man schon, und peinlich ist mir eh nichts mehr. Dachte heute an das komische Theater im Gorki, wo ich damals mit dem Ochsen war, und man am Ende als Publikum so im Kreis herumstand und jeder durfte einen Satz sagen, der mit den Worten begann: „I want to get rid of the mask…“, um dann hinzuzufügen, welcher speziellen Maske er sich gern entledigen wolle, und diese dann symbolisch, mit einer Geste der Hand, sich vom Gesicht zu reißen und in die Mitte des Menschenkreises zu werfen. Ich sagte damals nichts, mir war die Kehle zugeschnürt, ich fühlte mich so extrem unwohl in diesem Mitmachtheater, Ochse sagte was, aber ich verstand es gar nicht, verfluchtes Englisch, ich war bloß froh als der Zirkus endlich vorbei war. Als mir das heute wieder einfiel, auf dem Weg zurück vom Sophie-Charlotte-Platz, wo ich meine neuen Einlagen im Sanitätshaus abgeholt hatte, griff ich mir direkt ins Gesicht, zog eine Maske von mir ab, schleuderte sie auf den Bürgersteig und ging schnell weiter…

Herkunft

Mein Migrationshintergrund ist ja der, dass ich aus Bayern komme. Dank meiner Großmutter mütterlicherseits, die aus Bremen stammte, und von der ich erst das Sprechen, später das Lesen und Schreiben, und dabei gleichzeitig auch das Denken lernte, sprach ich dennoch seit frühester Kindheit ein reines Hochdeutsch. Das Wort „Saupreiß“ hörte ich in meiner Kindheit manches Mal, ich kapierte gar nicht, was das genau bedeuten sollte, von einem Land namens Preußen wusste ich nichts, dennoch bemerkte ich natürlich die Verächtlichkeit, die in diesem Schimpfwort lag. Ich verhärtete mich dagegen mit einem inneren Panzer. Ich konnte doch nicht anders, als zu sprechen, wie ich eben sprach. Die Lehrerin in der Schule liebte mich dann plötzlich für mein Hochdeutsch, hier war „Austreibung des Dialekts“ das heimliche Hauptfach, in welchem ich von der ersten Stunde an ihr Musterschüler war.

Das Bairische ergriff dann erst später Besitz von meiner Zunge. In der Pubertät, wo alles sich ändert, fing ich dann an zu reden wie meine Freunde. Wenn ich mich heute konzentriere, kann ich, glaube ich, immer noch ein halbwegs akzentfreies Hochdeutsch über meine Lippen pressen. Wenn ich ganz normal drauflos rede, bemerkt jeder, der Ohren hat, meine bayrische Herkunft.

Als ich in Frankfurt lebte, und später genauso in Offenbach, war es oft so, dass ich ein paar Sätze sagte, und mein Gesprächspartner dann sehr bald fragte: „Wo kommst du denn her?“ Und wenn ich dann antwortete: „Aus Bayern!“, dann hatte man gleich ein Thema, ich erinnere mich an den wunderbaren Metzger vom Vogelsberg auf dem Offenbacher Markt, der geradezu vernarrt war in alles Bayrische, sehr interessante Gespräche ergaben sich daraus, zum Leidwesen der hinter mir in der Schlange Wartenden.

In Berlin hingegen, da bist du nur der lästige Zugereiste. Der Schwabenhass der Berliner ist ja schon seit Wolfgang Thierse legendär, als Bayer hat man da noch Glück, da wird dein Dialekt bloß gnädig ignoriert. Wo du herkommst, fragt dich niemand.

Im diesjährigen Frühjahr redete ich hier in Berlin mit einem Türken, der fragte mich das: „Wo kommst du her?“ Und als ich Bayern sagte, erzählte er mir davon, wie er den Münchner Flughafen gebaut hat, wie die Bayern so drauf sind, und wie die Berliner, und auch davon, wo er herkommt, nämlich aus der ganz östlichen Türkei, Grenze zu Georgien, gebirgig sei es da, und ich dachte direkt: Da will ich auch mal hin. Und der nächste Gedanke war, wie witzig es ist, dass nach zehn Jahren in Berlin ein Türke es ist, der mich zum ersten Mal fragt, wo ich herkomme.